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Man muss an der Humanität in der EU zweifeln

Cornelia Ernst in einem griechischen Auffanglager

Das Interview als Audiodatei findet sich hier. (8min 24)


„Wenn es eine Totalverweigerung gibt, wozu brauchen wir dann überhaupt noch die Gemeinschaft EU?“ fragt Cornelia Ernst, Abgeordnete für DIE LINKE. im Europäischen Parlament, im Zusammenhang mit der ablehnenden Haltung vieler EU-Länder gegenüber dem Flüchtlingsstrom. Es gebe jeden Grund, an der Humanität in Europa zu zweifeln. Ein Interview.

Frau Ernst, EU-Kommissionspräsident Juncker hat angesichts der Flüchtlingskrise deutliche Worte gefunden, er sagte: Europa befinde sich in keinem guten Zustand. Ich könnte mir vorstellen, dieser Feststellung schließen Sie sich an…

Ich denke schon, dass die gegenwärtige Krise, in der wir uns befinden, eine humanitäre Krise ist. Sie stellt einen Lackmustest dar, was die Werte der EU wert sind, ob sie überhaupt noch existieren, oder ob der ganze Laden in sich zusammenbricht. Man muss es schon so ausdrücken.

Nun ist von der so genannten Juncker-Quote die Rede: Der EU-Kommissionspräsident will, dass weitere 120.000 Flüchtlinge innerhalb Europas verpflichtend verteilt werden. Angesichts von wahrscheinlich 800.000 Flüchtlingen, die allein in diesem Jahr nach Deutschland kommen, scheinen 120.000 allerdings eine verschwindend geringe Zahl…

So ist es, das kritisieren wir auch. Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein, und es gibt ja noch keine Zusagen. Relevante Länder sind ja überhaupt nicht bereit, aufzunehmen. Bzw. sie stellen Bedingungen, wie Ethnie, Religion, oder Ähnliches. Man kann die Zahl benennen, wie man will: Heute 120.000, morgen 125.000, es gibt keine Zusagen, es gibt nichts. Und es ist natürlich eine viel zu geringe Anzahl an Leuten. Und es ist auch wieder nur eine Notlösung und keine Dauerlösung, wie man generell mit dem Problem künftig umgehen will.

Warum, Ihrer Meinung nach, sträuben sich viele, vor allem osteuropäische Länder, gegen die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen? Immerhin machen Flüchtlinge gerade einmal nur 0,1 Prozent der europäischen Bevölkerung aus…

Na ich denke mal, dass es ein generelles Rassismusproblem in einer Reihe von Ländern gibt. In Ungarn wird das regelrecht ausgelebt und stark unterstützt auch von der ungarischen Bevölkerung. Wir finden das auch in Tschechien. So ist das Verhältnis zu Roma in Tschechien eine einzige Katastrophe. Also hier gibt es schon einmal eine Bringschuld im eigenen Land. Dinge, die nicht gemacht wurden in den letzten Jahren.

Jetzt kommen noch Flüchtlinge hinzu. Es gibt sicherlich auch wirtschaftliche Probleme in diesen Ländern. All das kommt zusammen und das führt dann dazu, dass man sagt: Nein, wir machen hier nicht mit. Man muss auch ehrlich sagen, dass diese Länder von der EU in den letzten Jahren stark finanziell unterstützt wurden. Und da muss ich schon sagen, auch diesen Ländern muss man etwas abverlangen. Nicht so viel, wie Deutschland, aber eben auch etwas. Ich halte es für eine ganz schlimme Angelegenheit, wenn hier so geblockt wird. Das ist für mich in jeder Hinsicht inakzeptabel.

Nun hatte Österreich bereits weniger EU-Fördermittel für die Länder ins Spiel gebracht, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Wie kann man Ihrer Meinung nach eine gesamteuropäische Flüchtlingssolidarität erreichen? Oder ist das gar nicht möglich?

Alles ist möglich. Das hängt natürlich von dem Willen in diesen Ländern ab — seitens der Regierungen, aber auch der Parlamente und der Bevölkerung, die Druck macht. Ändern kann man alles, man kann auch Positionen ändern, das ist klar. Und wenn es keine Änderung gibt, dann muss es Konsequenzen geben. Ich halte es schon für richtig, wenn man hier auch mit Sanktionierungen droht. Das passiert ja in anderen Dingen auch, da gibt es dann zum Beispiel Vertragsverletzungsverfahren.

Ich bin der Meinung, da muss auch in Erwägung gezogen werden, EU-Mittel zu entziehen. Das ist wirklich die letzte Instanz. Aber wenn es eine Totalverweigerung gibt, Deutschland und Österreich nehmen alle Flüchtlinge auf — ich übertreibe mal — dann kommen wir nicht zu dem Ziel. Wozu brauchen wir dann überhaupt noch die Gemeinschaft der EU? Diese finde ich dann nicht mehr unterstützenswert und ich glaube, diese Diskussion kann dann noch ganz gefährlich werden. Und das möchte ich nicht." 

Viele internationale Beobachter sprechen auch von einer Zerreißprobe für die EU. Ist das Konstrukt EU auch für Sie gefährdet?

Ja, definitiv. Schon mit Griechenland. Dort hat die Welt sehen können, dass man im inneren der EU nicht solidarisch miteinander umgeht. Und wenn man jetzt schaut, welche tragischen Ereignisse sich in den letzten Wochen an den EU-Außengrenzen abgespielt haben, dann muss man an der Humanität in der EU schon zweifeln. Wir sind in einer bedenklichen Schieflage. Ich sehe durch den aufkommenden Nationalismus in den einzelnen Mitgliedsstaaten und vor allem auch im Europäischen Rat eine Gefährdung der EU.

Und ein Zurück zum Nationalen halte ich für eine Katastrophe. Das wäre dann der Ausgangspunkt für ganz andere Auseinandersetzungen, die wir in Europa hätten. Und deshalb muss man um das europäische Projekt kämpfen. Aber nicht um jeden Preis, sondern indem man sich auf gleiche Standards einigt.

Schauen wir abschließend noch auf Deutschland: International sieht man Bilder von jubelnden Menschen, die Flüchtlinge an deutschen Bahnhöfen empfangen. Auch bei Kanzlerin Merkel dürfte das international für Rückenwind sorgen. Ist Deutschland denn das international so angepriesene Helferland?

Das war es bis vor kurzem aber gerade noch nicht. Da gab es die Schlagzeilen von abgebrannten Asylbewerberheimen, von dümmlichen Schreihälsen brauner Couleur, die "Ausländer raus" gebrüllt haben. Auch die Asylmissbrauchsdebatte, das ist ja alles dagewesen. Nur hat es einen Umschwung ganz woanders gegeben, nämlich in der Bevölkerung.

Viele haben gesagt: Jetzt sind die Flüchtlinge da, jetzt müssen wir sie unterstützen, wir können sie nicht hängen lassen. Viele Leute, die nirgendwo organisiert sind, sagen: Hey, wir müssen Unterstützung geben, das sind Menschen und wir sind auch Menschen. Das hat eine Bewegung hervorgerufen, der man sich nicht verschließen konnte. Und auf diese Welle ist dann natürlich auch — und ich bedauere das nicht — die Kanzlerin aufgesprungen. Und sie hat hier richtige Dinge angestoßen, die ich auch völlig klar unterstütze. Mir ist das natürlich viel lieber, als das, was ein Orban sagt. Und deshalb muss man vor allem der Zivilgesellschaft danken, die diesen Umschwung angestoßen hat. Die Regierung hätte es nicht gemacht.

Aus Ihrer Antwort höre ich heraus, dass Sie zwar gutheißen, wie Kanzlerin Merkel nun handelt, dass aber noch deutlich mehr getan werden müsste?

Das ist immer so, aber wenn man erst einmal Gelder aufstockt und die Diskussion darum geht, wie kommen die schnell in die Kommunen, das ist sehr vernünftig. Das unterstützen wir. Und wir müssen genau gucken, dass nicht irgendwelche Gelder auf Landesebene hängen bleiben. Diese Debatte ist eine gute Debatte, die ist förderlich. Es gibt aber auch andere Dinge, die wir nicht mögen, zum Beispiel die Diskussion um die "guten" und die "schlechten" Flüchtlinge. Das muss man auch noch einmal sagen: Krieg ist nicht das einzige Moment für Flucht, für Asyl und für die Anerkennung als Flüchtling. Das ist Fakt.

Und in der Genfer Flüchtlingskonvention steht nicht nur drin, dass nicht nur der Bürgerkriegsflüchtling akzeptiert werden kann. Sondern auch Leute, die einfach in ihren Ländern nicht leben können. Und Roma aus dem West-Balkan, wenn die sicher sind, dann bin ich die Jungfrau Maria persönlich. Das ist unsinnig, das ist nicht wahr, ich kenne die Verhältnisse dort. Und wenn auch die Türkei als sicheres Land gelten soll, nachdem sie jetzt ihre eigenen Leute verfolgt, Andersdenkende mit Bomben bedroht, also dann gute Nacht. Ich glaube, dieser Weg ist falsch. Wir dürfen die Flüchtlinge nicht in "Gute" und "Schlechte" einteilen, sondern wirklich jedes einzelne, individuelle Schicksal betrachten. Nur so kommt man voran.

Das Interview bei Sputnik News findet sich hier.

 

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